Das Kamasutra ist, ähnlich wie Über den Umgang mit Menschen von Freiherr von Knigge, im höfischen Umfeld entstanden. Anders als zu Knigges Zeiten in Europa galt damals in Indien das Individuum wenig und die Religion alles. Deshalb ist das Kamasutra nicht nur eine parodistische Beschreibung von Anstandsregeln und wie man seine Sexualität ausleben kann, ohne in schlechten Ruf zu geraten, sondern auch ein Aufbegehren gegen die totale Reglementierung jedes noch so kleinen Details des menschlichen Lebens durch die vielen uralten Schriften, die gesetzgebenden Charakter hatten.
Kama bedeutet frei übersetzt 'Verlangen' und ist ein unkeusches Wort. Es bedeutet nicht nur Liebe oder Sex, denn auch das Knurren des leeren Magens ist Ausdruck von Kama. Etwas potentiell erotisch-sexuelles zum Titel eines Lehrbuches zu machen, war im prüden Indien schon an sich eine Provokation. Durch die Kombination mit dem Wort Sutra im Titel erhob das Werk aber außerdem den Anspruch, auf Augenhöhe mit den altehrwürdigen Werken zu stehen, die aus Sutras bestehen und die kulturelle Grundlage Indiens gelegt hatten, noch bevor es Schrift gab.Die gründliche, extrem systematische und in bestimmten Aspekten sogar realistische Darstellung kleinster Details der Suche nach einem geeigneten Sexualpartner mit Verführung, Ausübung und Beendigung entspringen nicht nur einem Bemühen um Aufklärung, wie wir sie beispielsweise bei Alfred Charles Kinsey finden. Vielmehr ist diese akribische Darstellung und Reglementierung ein für alte indische Schriften typisches Merkmal, das hier verwendet wurde, um die Nähe, Vergleichbarkeit oder einen ebenso hohen Rang wie diese Schriften anzudeuten. Ausdrücke wie: "Die 64 Glück verheißenden Zeichen einer guten Liebhaberin", die nachfolgend einzeln, nachvollziehbar und in Untergruppen aufgeteilt beschrieben werden, sollen an Systematiken wie den "Tausendblättrigen Lotus" erinnern, das höchste Chakra, das als oberste Instanz für (5 Sensoren + 5 Aktoren) * 2 Richtungen * 50 Neigungen beschrieben wurde. Im Unterschied zu den religiösen Texten, die diese "niederen Gelüste" als gefährliche Feinde der spirituellen Entwicklung anprangern, wird gerade ihnen im Kamasutra konsequent gehuldigt.
Da sich Sanskrit-Verse selbst in deutscher Übersetzung nicht sehr gut verkaufen, ist diesem Text durch die Verleger im Laufe der Zeit immer mehr erotisches Bildmaterial beigefügt worden, bis diese Bilder den überwiegenden Teil ausmachten und der Textanteil auf die Bildunterschriften reduziert wurde. Mit dieser profitorientierten Einstellung des Sex sells hatte der Autor wenig im Sinn. Viel mehr ging es ihm darum, die Scheinheiligkeit der sanskrit-rezitierenden Pandits einerseits und die höfische Doppelmoral andererseits zu entblößen.Im altindischen Glauben, der dem Kamasutra zugrunde liegt, gilt es, im Leben drei „Güter“ zu erwerben: Dharma, das spirituelle Wohl durch Befolgung religiöser Richtlinien, Artha, materielle Güter und Reichtum und Kama, den sinnlichen Genuss. Höchste Priorität hat dabei Dharma, danach folgt Artha und schließlich Kama; ein Gut mit niedrigerer Priorität darf nach dem Kamasutra den Erwerb eines höherwertigen Gutes nicht stören. (Quelle: Wikipedia) or/pw